Toni Sieber lebt seit zwei Jahren in Ulm und arbeitet als Prozessmanager in der Luftfahrt. Durch Prozessverbesserungen unterstützt er Ingenieure dabei, gut und effektiv zusammen zu arbeiten. Schon seit einiger Zeit ist er zum Thema Gemeinwohlökonomie (GWÖ) aktiv. Klimadelegations-Mitglied Anngritt hat ihn zu seinem Engagement befragt.
Wie bist du zur Gemeinwohlökonomie-Bewegung gekommen? Wann fing das an und wie hast du davon erfahren?
Im Sommer 2017 ist mir bewusst geworden, dass nicht irgendjemand etwas machen muss, damit sich etwas ändert, sondern ich selbst. Zur selben Zeit habe ich auch zum ersten Mal von der Gemeinwohlökonomie erfahren, durch ein Video im Internet, und ich hab nach „Nachhaltigkeit Ulm“ gegoogelt, wo das erste Ergebnis das Treffen der Ulmer Regionalgruppe GWÖ war.
Was hat dich überzeugt mitzumachen?
Das erste Treffen hat mich direkt elektrisiert. Die Umgangsform zwischen den Menschen, die Energie, die dort herrscht, Dinge anzupacken und die Probleme jetzt einfach zu lösen hat mich wirklich begeistert.
An der Gemeinwohl‑Ökonomie selbst fasziniert mich der Ansatz, dass man der Wirtschaft und Politik ein Ziel gibt, das bisher ganz deutlich fehlt. Und nein, mehr Geld und ein höheres Bruttosozialprodukt sind kein Ziel. Geld ist nur ein Mittel. Ein Mittel um bestenfalls den Wohlstand der Gesellschaft zu erhöhen. Und das sehe ich als wahres Ziel. Den Leuten sollte es in einem Jahr besser gehen als heute. Und wenn ein Unternehmen dagegen arbeitet, z.B. indem es die Natur schädigt, Mitarbeiter und Zulieferer ausbeutet, dann kann das nicht im allgemeinen Interesse sein.
Du bist in der GWÖ Gruppe Ulm tätig. Was genau sind eure Aufgaben?
Wir würden nicht von Aufgaben sprechen. Wir tun das, wofür wir Energie verspüren. Beim einen kann das Hilfestellung für Unternehmen sein, die mehr Nachhaltigkeit und mehr Sinn in ihren Betrieb bringen wollen. Für andere ist es die Beeinflussung der Politik, dass wir Maßnahmen brauchen, die das Gemeinwohl fördern. Und ganz viele von uns wollen einfach nur der ganzen Welt davon erzählen, dass es da eine gute Idee gibt, die es wert ist, verfolgt zu werden. Und in Workshops und Unterrichtsstunden konkret daran zu arbeiten, wo wir uns verbessern können und alle zu mehr Gemeinwohl beitragen können.
Geht ihr auch auf Unternehmen zu und versucht, sie von der Gemeinwohl-Strategie zu überzeugen?
Das ist eher seltener der Fall. Es gibt im September in Kooperation mit der Ulmer Wirtschaftsförderung eine Veranstaltung, in der wir Unternehmen für die GWÖ begeistern wollen. Aber bisher läuft es eher anders herum. Viele Unternehmer*innen beschäftigt auch das Thema Sinnhaftigkeit und Nachhaltigkeit. Das geht bis zur Frage „Was kommt dabei raus, wenn mein Unternehmen ein Jahr wirtschaftet?“ Viele finden in der Gemeinwohl‑Ökonomie die Antworten auf das Gefühl, dass mit dem alten System etwas nicht stimmt und freuen sich über den Austausch und die Möglichkeiten.
Seid ihr in eurer Regionalgruppe Einzelkämpfer oder vernetzt ihr euch mit anderen Gruppen? Wie funktioniert das?
Wir sind mit vielen Gruppen vernetzt, u.a. über das Ulmer Netz, und können so viele Projekte zusammen auf die Beine stellen. Letztes Jahr, im November 2018, war Christian Felber – das ist der Initiator der Bewegung Gemeinwohl-Ökonomie – persönlich in Ulm. Die Veranstaltung wäre ohne unsere ganzen Kooperationspartner gar nicht möglich gewesen.
Da die Gemeinwohl‑Ökonomie einen ganzheitlichen überfassenden Ansatz bietet, sprechen wir viele Themen von anderen Gruppen mit an: Menschenrechte, Klima- und Naturschutz, fairer Handel, und, und, und … Wir profitieren von Expertise anderer Gruppen und die Gruppen können z.B. durch steigende Nachfrage in Unternehmen und Politik weiter kommen. Außerdem ist Kooperation einer der großen Grundsätze der GWÖ. Nichts ist so stark wie ein Verbund von Menschen und Organisationen, die eine gemeinsame Vision haben. Ans Ziel kommen wir nur zusammen. Eure Anfrage für ein Interview ist das beste Beispiel für gelingende Vernetzung!
Das Ulmer Stadthaus war während des Vortrags von Christian Felber übervoll. Daran hat man gesehen, das Thema trifft den Nerv der Zeit. Was ist deine persönliche Meinung zum Potenzial der GWÖ? Kann Sie das bestehende Wirtschaftssystem verändern?
Sie kann nicht nur, sie tut es bereits! Es gibt immer mehr Unternehmen, Kommunen, Menschen, die ihr Handeln dem Gemeinwohl ausrichten. Fördergelder und die positive Zielsetzung treiben das Ganze an. Nachhaltigkeitsberichte gewinnen weltweit stark an Bedeutung und werden immer detaillierter. Bis wirklich das Geld nur noch zweitranging, hinter dem Fortschritt im Gemeinwohl betrachtet wird, dauert es wohl noch Ewigkeiten. Für meinen Geschmack könnte es schon noch deutlich schneller voran gehen, aber überzeugt vom Potenzial der GWÖ bin ich auf jeden Fall!
Bedarf es hierfür vor allem Idealismus und aktive Menschen oder braucht es politische Vorgaben?
Wir alle Dinge funktioniert es ohne Politik – wenn wir darauf immer warten würden, würde nichts mehr voran gehen. Aber mit Politik funktioniert es noch viel besser. Wie gesagt, es gibt bereits Fördergelder für GWÖ-Unternehmen. Was aber wirklich mal kommen sollte, sind Steuern abhängig von der GW-Bilanz der Produkte. Warum müssen für unverpackte klimafreundliche Bio-Kartoffeln von der regionalen Bäuerin genauso viele Steuern gezahlt werden, wie für minderwertige Schokolade, die mit Sklaverei und Naturkatastrophen hergestellt wird?
Wenn du dich auf ein Wort beschränken müsstest: Worin zeigt sich für dich „Gemeinwohl“?
Zukunft 😉
Vielen Dank dass du dir die Zeit für uns genommen hast!